Das Symbol der Schlange

Im ursprünglichen Sprachgebrauch war ein Symbol ein Erkennungszeichen. Es stand stellvertretend für eine andere Realität und wurde schließlich zum sichtbaren Zeichen einer unsichtbaren Wirklichkeit. Echte Symbole können wir daran erkennen, dass sie mehrdeutig und gegensätzlich sind. Die Schlange ist ein Ursymbol, in fast allen Kulturen spielt sie in Mythen und im Brauchtum eine große Rolle. Es gibt wenige Symbole, die so vieldeutig und vielschichtig sind und eine solche Spannbreite polyvalenter Bedeutungen aufweisen.
So bedeutete die Schlange einerseits Leben, Erneuerung, Verjüngung, Häutung, Auferstehung und andererseits Tod, Gift und Zerstörung. Sie symbolisierte die schöpferische Kraft der Erde. Sie war Begleiterin der Großen Mutter, geheimnisvoll wie sie, rätselhaft, intuitiv, eine unkontrollierbare, undifferenzierte, unerschöpfliche Lebenskraft. Sie war Verjüngerin, Licht, Wärme und Feuer; Sonnenstrahlen und der Blitz wurden ihr zugeordnet.
Sie war aber auch mit der Unterwelt verbunden, hatte Zugang zu Zauberkraft und Heilwissen, war ein Symbol für Macht und Weisheit und verkörperte den weiblichen Logos, das weise Wort. Als Hüterin der Schwelle war sie ein häuslicher Schutzgeist und gleichzeitig auch Hüterin der Schwelle in eine andere Welt, Mittlerin zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen Himmel und Erde.
Sie war eine personifizierte Schicksalsmacht und galt als Symbol der inneren Natur des Menschen und seines Gewissens. In einer uralten Version des Schlangenmythos erschuf die zweifache Mondgöttin den Menschen. Er sollte unsterblich wie die Schlange sein, aber auch unter die Erde gehen können und Zugang zu deren Kräften haben, damit wurde er sterblich. Die Schlange galt als unsterblich und war dennoch mit der tiefen unteren Welt verbunden und vertraut mit den Toten. Die Seelen Verstorbener sollten als Schlangen wiederkehren, die Seelen der Ahnen, sie verkörperte aber auch die Seele der Heilerin oder des Heilers oder der Muttergöttin.
Sie war selbst Göttin oder Attribut von Göttinnen, sie war Begleiterin von Mond- und Wassergottheiten, Reittier von Göttinnen und Göttern. Es gibt kaum ein Symbol von solcher Totalität und Dualität und es gibt kaum ein bei so vielen Kulturen so weitverbreitetes Symbol.

In Afrika ist die Schlange ein königliches Symbol der Macht. Die Himmelsschlange wurde mit Blitz und Regenbogen gleichgesetzt.

Auch bei den australischen Aborigines ist der Blitz ein Zeichen der Schlange, die Regenbogenschlange ist ein umfassendes kultisches Symbol.

Bei den Azteken war es die gefiederte Schlange, die Sonnenstrahlen, Blitz, Regen, Wind und damit Geist und Macht verkörperte.

Im Hinduismus ist sie ein Symbol von Natur, kosmischer Macht, aber auch Chaos. Die Feuerschlange ist hell, die dunkle Schlange wird der Dunkelheit, der Tiefe, zugeordnet, also auch hier wieder ein dualistisches, aber nicht polarisierendes, spaltendes Prinzip, denn das eine bedingt das andere. Die königliche Schlange verkörpert Macht, sie ist auch hier die Hüterin der Schwelle. Als Lingam, als Penis des Shiva, ist sie der männlichen Sexualität zugeordnet. Als Kundalini bedeutet sie die verborgene schlafende Energie im Beckenraum, die zusammengerollte innere Kraft des Weiblichen. Gleichzeitig ist sie ein Bild für den ewigen Kreislauf der Energie in der Welt und im Kreislauf der Zeitalter.

Auf Kreta gab es den minoischen Schlangenkult. Die Schlange als Attribut der Großen Göttin bedeutete Fruchtbarkeit, Heilwissen, Geburt und Wiedergeburt. Später wurde die gewundene Äskulapnatter das Zeichen für Asklepios, den heilenden Gott, als das Heilwissen nicht mehr wie ursprünglich dem Weiblichen zugeordnet wurde. Sie ist noch heute das Zeichen der Ärzteschaft und der Apotheken.

Die babylonische Schlange Tiamat, die „Fußlose“, verkörperte die Sinnenlust, das Ungeteilte, das Chaos, später Finsternis und Verderben. Eine besondere Form der Schlange ist die, die den Kreis schließt, die kosmische Schlange, die kreisförmig ist, zyklisch und damit unendlich. Sie wurde in Griechenland „Ouroboros“ genannt, die Schlange der Ewigkeit, der kosmischen Kreisläufe der Energien, der kosmischen Kräfte der Zeitalter oder der Ozeane, die die Erde umschließt.

Im Tantrismus als Kundalini war die ringförmige Schlange weiblich, zyklisch und ewig, weit über sexuelle Energien hinaus. Sie umschlingt bei den Maya die Länder der Menschen, genauso wie die Midgardschlange Skandinaviens die Erde umschließt, um das Weltenei gerundet. Sie bedeutete Vollmacht des Lebens, des Werdens, der Zeit, der Zyklizität, Ananta, die indische Schlange ohne Ende, die Weltschlange.


So verbindet das Symbol der Schlange die verschiedenen Länder und Kulturen. Sie war als ubiquitäres Symbol ursprünglich Zeichen für zyklische Ganzheit und Heilsein, ohne Spaltung, ohne Wertung, für die Verbindung und für die Untrennbarkeit der Gegensätze von Hell und Dunkel. Im Rahmen der Entwicklung patriarchaler Vorstellungen, deren hervorstechende Merkmale Spaltung und Bewertung der Spaltprodukte, also eine Hierarchisierung ist, wurde sie zu einem spannungsreichen, umfassenden, teilweise entwerteten und enteigneten Symbol, für Heil wie Unheil, Gut und Böse. Ihrer lichten Seite als göttlich, heilend, schützend, verbindend und erlösend wurden negative, abwertende Eigenschaften entgegengestellt. Sie galt als listig. Heimtücke, Verschlagenheit, die gespaltene Zunge, die Falschheit wurden ihr zugeordnet.
Im Judentum und besonders später im Christentum wurde sie zur Verführerin und Verderberin, sie galt als Inbegriff der Finsternis und des Bösen. Aus der Göttin, der Begleiterin von Göttinnen und Göttern wurde die Begleiterin des christlichen Teufels, sie wurde ihm und damit den dunklen, bösen und aggressiven Kräften der Unterwelt in Verbindung gebracht oder sogar personifiziert, nicht mehr mit den weisen, heilenden, erlösenden Fähigkeiten der unteren Welt der Tiefen. Sie war der Erde zugeordnet, dem Körperlichen, der Materie, Mater, Mutter, dem Mütterlichen und damit wirkte sie in der christlichen Vorstellung der „Erlösung des Geistes“ entgegen. Denn der Körper galt als „Gefängnis des Geistes und der Seele“, und dieses Gefängnis mußte, wie das Erdhafte, Naturhafte, „überwunden“ werden, um den „Geist“ oder die „Seele“ zu erlösen.
Frauen sind noch auf eine andere Weise mit dem Symbol „Schlange“ verbunden. Die Schlange wurde im historischen Kontext als genaue Parallelentwicklung zur Wertung des Weiblichen und der Frau – denken wir an die „Hexen“ und die Ermordung der weisen Frauen- erst dämonisiert, dann abgewertet, bis sie schließlich Freud in seiner Psychoanalyse als einseitiges männliches Symbol für den „Penis“ oder „Phallus“ aquirierte. Mit dieser Festlegung war die Schlange auch als Symbol entwertet, denn das Kennzeichen von Symbolen ist gerade ihre Mehrdeutigkeit und Vielschichtigkeit. Aber uralte Symbole lassen sich nicht einfach ihrer Bedeutung enteignen, sondern wirken weiter.

Quelle: Ingrid Olbricht
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